(frei nach „Balkanmärchen aus Bulgarien“ von August Leskien)
Einmal gab ein Zar den Befehl: „Wer diesen Stein schlachtet, so dass das Blut davon fließt, den will ich zum Ersten meines Reiches machen.“ Von allen Seiten kamen sogleich wackere Burschen herbei, aber keiner von ihnen konnte den Stein schlachten.
In einem kleinen Dorf gab es ein sehr kluges Mädchen, dass die Schafe hütete. Als sie davon hörte, verkleidete sie sich als Mann, ging zum Zaren und sprach zu ihm: „O Zar, ich kann den Stein schlachten.“ Überallhin ging das Gerücht, es habe sich ein Mann gefunden, den Stein zu schlachten, und zahllose Leute sammelten sich, um zu sehen, wie er das machen wird.
Als der Tag kam zogen der Zar und alle Vornehmen aus der Stadt auf einen freien Platz. Dort vor aller Augen sollte das Mädchen, das als Hirte verkleidet war, den Stein schlachten. Das Mädchen zog ein Messer, wandte sich zum Zaren und sagte: „Zar, du willst doch, dass ich den Stein schlachte. So gib ihm vorher eine Seele, und wenn ich ihn dann nicht schlachte, nimm meinen Kopf.“
Der Zar wunderte sich über diese Antwort und sagte: „Du bist der Klügste in meinem Reiche, und ich will dich zum vornehmsten Manne machen. Wenn du mir aber noch das vollbringst, was ich dir sagen werde, so sollst du mir wie ein Sohn sein.“ Das Mädchen sprach: „Sage, Zar, was du sagen willst, und wenn es möglich ist, will ich mich bemühen, es zu vollbringen.“ Der Zar sprach zu ihm: „Von jetzt an in drei Tagen sollst du wieder vom Dorfe hierher kommen. Wenn du kommst, sollst du reiten und nicht reiten, sollst mir ein Geschenk bringen und nicht bringen. Alle, groß und klein, wollen wir herauskommen und dich empfangen, und du sollst die Leute dahin bringen, dass sie dich empfangen und nicht empfangen.“
Die Hirtin ging nun in ihr Dorf und gab den Bauern den Auftrag, vier Hasen und zwei Tauben lebendig zu fangen. Die Bauern taten das. Am dritten Tag, als sie zu dem Zaren gehen sollte, steckte sie die Hasen je einen in einen Sack, gab sie den Bauern zu tragen und sagte: „Wenn ich euch sage, ihr sollt sie loslassen, dann lasst sie los.“ Sie selbst nahm die beiden Tauben, setzte sich rittlings auf eine Ziege und machte sich auf zu dem Zaren. Einige Leute hatte sie bereits vorausgeschickt, ihm anzuzeigen, dass sie komme.
Als der Zar das hörte, zog er mit allen Vornehmen und zahllosen Stadtleuten aus der Stadt, den Hirten zu empfangen. Als nun das Mädchen nicht mehr weit von dem Zaren war, sah sie die Menge Menschen, die herausgekommen waren, sie zu empfangen. Und als sie ihnen nahe kam, befahl sie den Bauern, vor den Augen der Leute die Hasen loszulassen. Sobald die das sahen, rannten sie fort, die Hasen zu fangen. Die Hirtin, die rittlings auf der Ziege saß, ging bald zu Fuß, die Ziege zwischen den Beinen, bald hob sie die Füße auf und ritt auf der Ziege. Als sie schließlich vor den Zaren trat, zog sie die beiden Tauben aus dem Hemd und reichte sie ihm hin. Doch in dem Augenblick, als er die Hand danach ausstreckte, um sie zu nehmen, ließ sie die Tauben los und sie flogen davon. Da sprach der Hirte zum Zaren: „Du siehst, Zar, die Leute haben mich empfangen und nicht empfangen. Ich bin geritten und nicht geritten. Ich habe dir ein Geschenk gebracht und nicht gebracht.“ Da sagte ihr der Zar: „Von heute an sollst du mir wie ein Sohn sein.“ Sie aber flüsterte ihm ins Ohr: „Ich bin aber kein Bursche, ich bin ein Mädchen.“ Der erstaunte Zar, der nicht verheiratet war, nahm sie sofort zur Frau. Und so wurde die Hirtin durch ihre Klugheit Zarin.